Buhrufe für den Herausforderer. Wladimir Klitschko bekommt einen Tag vor dem Boxkampf des Jahres von rund 2000 Fans beim traditionellen Wiegen in der Wembley Arena einen Vorgeschmack darauf, was 90.000 Menschen am Samstagabend ein paar Meter weiter im Stadion veranstalten werden.
Die Sympathien sind in London klar zu Gunsten von Lokalmatador Anthony Joshua verteilt. Das ist nun keine Überraschung. Sehr wohl erstaunlich ist aber, was die Waage bei Klitschko anzeigt, nachdem er die Pfiffe gegen sich mit einem souveränen Lächeln quittiert hat.
Seit Jahren nicht mehr so fit
Gerade mal 109,1 Kilo verteilen sich auf 198 Zentimeter Körpergröße, Joshua dagegen bringt es auf über vier Kilo mehr - bei gleicher Größe. Vor seinem letzten Kampf - der bitteren Pleite gegen Tyson Fury im November 2015 hatte Klitschko noch 111,5 Kilo gewogen. Manager Bernd Bönte erklärt: "Ich habe ihn schon seit vielen, vielen Jahren nicht mehr in einem so guten körperlichen Zustand gesehen."
Der Stachel der einstimmigen Punktniederlage gegen Fury vor 16 Monaten sitzt tief bei Klitschko. Die vertraglich zugesicherte Revanche wurde erst verschoben, dann gecancelt. Fury wurden Drogenprobleme nachgesagt, seine Boxlizenz hat er mittlerweile verloren.
Mit jetzt 41 Jahren hätte sich Klitschko auch in die verdiente Box-Rente verabschieden können - doch er will es nochmal wissen. Seit der Niederlage von Düsseldorf sei sein Schützling "absolut besessen", erklärte Trainer Johnathon Banks in dieser Woche britischen Medien. Akribisch und intensiv wie nie zuvor hat er sich auf diese Chance, die Gürtel der WBO, IBF und IBO noch einmal an sich zu reißen, vorbereitet.
Aufstieg in Legenden-Club mit Ali und Holyfield?
Nutzt er sie, würde er sich zum dritten Mal zum Schwergewichts-Weltmeister küren. Das schafften zuvor nur Muhammad Ali, Evander Holyfield, Lennox Lewis und Bruder Vitali. Ein Club der Legenden. Klitschko ist besessen von der Idee, seiner ohnehin großartigen Karriere nochmal dieses i-Tüpfelchen aufzumalen.
Fast eine Dekade lang beherrschte Klitschko das Schwergewichtsboxen, für manchen fast schon bis zur Langeweile. Zwischen April 2006 und ebenjenem folgenschweren November 2015 war Klitschko ungeschlagener Champion. Auf stolze 69 Profikämpfe blickt der Olympiasieger von 1996 zurück, 64 Mal stieg er dabei als Sieger aus dem Ring, 53 Mal durch Knockout.
Auf seine körperlichen Anlagen und seine überragende Technik konnte sich der Sohn eines ukrainischen Offiziers und einer Lehrerin, der zu Beginn noch im Schatten des älteren Bruders stand, fast immer verlassen. An der Reichweite von 206 Zentimetern des in der Linksauslage boxenden Rechtshänders scheiterten viele Gegner. Sein rechter Cross - eine höchst präzise Waffe.
358 zu 40 Profi-Runden
So kommt eine beeindruckende Zahl von 358 Runden in der Profikarriere des 41-Jährigen zustande. Zum Vergleich: Joshua hörte den Gong als Profi bislang gerade mal 40 Mal.
Die Erfahrung ist daher auch Klitschkos größter Trumpf im Wembley-Stadion. Jenes "Aber", das die Experten, die Joshua leicht favorisieren, immer hinter ihre Einschätzung setzen. Klitschko selbst merkte an, dass er schon fast so lange boxe wie der 27-jährige Engländer auf der Welt ist.
"Am Ende werde ich den Applaus kriegen"
Die Vorarbeit ist geleistet, jetzt will Klitschko diese Erfahrung ausspielen. Und damit seine letzte Chance ergreifen. Gelingt ihm das nicht, folgt wohl das Karriereende - auch wenn der Ukrainer das so noch nicht formulieren wollte.
Der Fokus gilt nur Joshua, dem Wembley-Stadion, den 90.000, die in der kühlen Londoner Abendluft mehrheitlich gegen ihn schreien werden. Doch Klitschko, der Besessene, sagt: "Auch wenn die meisten Fans hinter Anthony stehen werden: Das ist mein Event, meine Nacht, mein Ring und mein Sieg. Am Ende werde ich den Applaus kriegen."
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